Voraussetzungen– oder: Wie wir Zeit-Geschichte erzählen
Üblicherweise wird Zeit-Geschichte als kulturtechnologische Evolution mit klar festgelegten Etappen erzählt. Verschiedene Zeitmesser stehen darin für unterschiedliche Entwicklungsstufen: Uhren verkörpern die Vorstellung einer globusumspannenden Gleichzeitigkeit in der Moderne. Smartwatches erlauben nicht nur Echt-Zeit-Kommunikation, sondern symbolisieren auch Selbstoptimierung und Entgrenzung im digitalen Zeitalter.
In dieser Fortschrittsgeschichte findet das archaische und klassische Griechenland dagegen keinen Platz. Hier scheinen das Noch bzw. Noch-nicht zu dominieren: Kalender besaßen lediglich lokal Gültigkeit und Institutionen produzierten unterschiedliche Eigen-Zeiten. Wasseruhren zeigten keine Stunden an, sondern maßen Redezeiten in Relation. Sonnenuhren? Bis zum 4. Jahrhundert wohl Fehlanzeige, und zwar nicht nur im archäologischen Befund.
Indes weist ein solcher Zugang nicht nur Leerstellen, sondern auch fragwürdige Voraussetzungen auf. Wer sich auf chronometrische Innovationen konzentriert, läuft Gefahr, Strukturen abseits davon aus dem Blick zu verlieren. So gerät gerade das Wechselverhältnis temporaler und politischer Ordnungen in historischen Gesellschaften aus dem Blick. Wie stark politisiert Zeitfragen auch in der Gegenwart sein können, führte im Juli 2023 ein Beschluss des ukrainischen Parlaments zur Verlegung auf den 25. Dezember vor Augen. Durch die Kalenderänderung haben sowohl die Werchowna Rada als auch die Orthodoxe Kirche der Ukraine ihrem Anspruch auf Selbstbestimmung Ausdruck verliehen.
Über das Projekt
Chrono-Polis untersucht das Verhältnis von Zeit und Politik im klassischen Athen. Ziel ist eine Neubewertung Athener Temporalitäten im Lichte der demokratischen Ordnung jenseits kulturtechnologischer Fortschrittserzählungen. Aufbauend auf sozial- und kulturwissenschaftliche Theorieangebote erkundet die Studie einerseits das komplexe Zusammenspiel athenischer Stadt-Zeiten. Welche Gleichzeitigkeiten lassen sich feststellen und inwieweit sind diese auf den Demokratisierungsprozess zurückzuführen? Welche Medien und Mechanismen wurden angewandt, um Zeitrahmen unterschiedlicher Institutionen miteinander zu verbinden? Andererseits beleuchtet das Buch den Zusammenhang von Bürgerteilhabe und temporalen Ressourcen. Gerade im demokratischen Athen waren zeitökonomische Differenzen nicht nur ein praktisches, sondern auch ein ideologisches Problem. Nicht gleich viel Zeit zu haben, wurde zum Gegenstand von Ungleichheitsdiskursen. An der Frage nach Freizeit entzündeten sich schließlich Debatten um Freiheit.
Mit dieser Problemstellung trägt das Buchprojekt einerseits aktuellen Debatten über das Verhältnis von Zeit und Politik Rechnung. Methodisch kann die Studie an eine Reihe von Untersuchungen anknüpfen, die antike Temporalitäten ins Zentrum politik- und sozialgeschichtlicher Analysen rücken. Zeit und Politik im demokratischen Athen zu erforschen, verspricht unser Verständnis dieses historisch so wirkmächtigen Experiments um eine gegenwartsrelevante Facette zu bereichern.
2021
- Vortrag im Kolloquium Alte Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin „Gedränge, Gewühl und Gezänk bei der Quelle. Athenische Krenai als chron(otop)ische Kommunikations- und Konflikträume“
2022
- April–September: Fellow am Einstein Center Chronoi, Berlin
- Chronoi Talk: ‚In Synch with the City? Preliminary Thoughts on Time and Community in Fifth-century Athens”
2023
- Vortrag im Kolloquium Alte Geschichte | Albert-Ludwigs-Universität Freiburg: „Zwischen temporaler Pluralität und Synchronisation. Ansätze zu einer Zeit-Geschichte Athens im 5. Jh.“
- Vortrag im Althistorischen Forschungscolloquium | Freie Universität Berlin „Im Takt mit der Stadt? Zeit und Gemeinschaft im Athen des 5. Jahrhunderts“
- Probevortrag an der Humboldt-Universität Berlin „Zeit – Zeichen – Geschichte(n). Mediale Figurationen und politische Dimensionen athenischer Temporalitäten im 5. Jahrhundert“
2024
- Vortrag im Rahmen des Workshops Urban Times (Bonn) „Scheduling (In-)Equality. A Re-Exploration of Athenian Times”
- Vortrag im Colloquium Classicum | Goethe-Universität Frankfurt „Ringen um Genauigkeit? Der temporale ἀκρίβεια-Diskurs bei Thukydides und sein Kontext“